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Ernst Barlach, Lehrender Christus (1931)
Ernst Barlach, Lehrender Christus (1931)

Predigt zu Markus 3,31-34

Liebe Schwestern und Brüder,

mögt ihr das eigentlich, so in einer Predigt angesprochen zu werden?

Ich fange die meisten Predigten an mit "Liebe Schwestern und Brüder" – aber eigentlich weiß ich nicht, ob das für Euch in Ordnung ist. Im Grunde hoffe ich immer, dass ich damit nicht der einen oder dem anderen zu nahe trete, wenn ich eine Predigt mit dieser Anrede beginne. 

Manchmal habe ich nach einer alternativen Anrede gesucht, aber letztlich bin ich dann doch immer wieder darauf zurück gekommen – nicht aus dem Mangel an anderen Formulierungen heraus, sondern weil mir diese Anrede dann doch zu wichtig war, um sie durch etwas Gefälligeres zu ersetzen.   

„Liebe Brüder und Schwestern“ – das ist die Anrede, die sich in der Bekennenden Kirche in Deutschland herauskristallisiert hat, als in den Kirchen der Deutschen Christen die „deutschen Volksgenossen“ adressiert wurden. Es ist die Anrede, die in den Kirchen der DDR bewußt gepflegt wurde, um das nicht zu verlieren, was die Bekennende Kirche an Einsicht gewonnen hatte. 

Liebe Schwestern und Brüder – mir ist diese Anrede wichtig. Sie geht zurück auf den Abschnitt aus dem Markusevangelium, der heute unser Predigttext ist:


Einmal war Jesus im Haus von Simon und Andreas in Kapernaum und brachte den Menschen, die sich im Haus versammelt hatten, den Willen Gottes nahe. 

Jesu Mutter und seine Geschwister waren gekommen – sie wollten ihn nach Hause zurückholen. Vor dem Haus blieben sie stehen und schickten jemanden hinein zu ihm, der sollte ihn herausholen. 

Um Jesus herum saßen die Menschen, die ihm zuhörten, und von draußen kam der, der ihm sagte: Hör mal, da draußen stehen deine Mutter und deine Geschwister; die suchen nach Dir.

Jesus aber entgegnete: Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Geschwister? Und er sah die Menschen an, die dort um ihn saßen und sagte: Das sind meine Mutter und meine Geschwister! Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.

Gott segne uns durch sein Wort!

Liebe Schwestern und Brüder!

Maria tut mir leid. Die Mutter Jesu.

Für sie muss das schmerzhaft gewesen sein.

Sie wird sich abgewiesen gefühlt haben – vielleicht auch bloßgestellt.

Und gedemütigt.

Sie mag das so empfunden haben, dass ihr Sohn sich von ihr lossagte mit diesen Worten. Das ist hart!

Und niemand kann sie tröstend in den Arm nehmen und sagen: "Er meint es nicht so." 

Er meint es genau so!


Ich denke an Menschen, die mir als Seelsorger davon erzählen, wie es sich anfühlt, sich so zurückgewiesen zu fühlen:

- eine Mutter, deren Tochter den Kontakt zu ihr abgebrochen hat, als sie sich gegen Corona hat impfen lassen;

- einen Vater, der mir sagt: ich habe meinen Sohn an die Alternative für Deutschland verloren.

Ich denke aber auch an Menschen, die mir als ihrem Seelsorger erzählen, wie es sich anfühlt, einen solchen Schnitt zu vollziehen:

- eine junge Frau, die sich gegen den Willen ihrer Eltern den Weg aufs Gymnasium erkämpft hat und als sie anfing, Veterinärmedizin zu studieren, die offen zur Schau getragene Bildungsverachtung ihrer Herkunftsfamilie nicht mehr ertragen konnte;

- einen jungen Mann, der sich aus dem christlich-konservativen Milieu seines Elternhauses mit einem harten Schnitt verabschiedet, um endlich zu seiner Homosexualität stehen zu können.

Leicht gefallen ist die Trennung niemandem, der oder die davon erzählt hat. Manche haben den Trennungsschmerz eingehegt, die Wunden gut versorgt, mit den Narben leben gelernt.  

Manche haben gelitten – jahrelang und konnten die Wunde nicht zur Ruhe kommen lassen, haben immer wieder daran gerührt, wie unter Zwang.

Und ja: manche haben auch Versöhnung erlebt. Auch die Erfahrung gibt es, dass Familien nach Jahren wieder zusammen gefunden haben.

Unser Predigttext gehört dazu: Unter dem Kreuz steht Maria und Jesus spricht sie als seine Mutter an. Nach Ostern wird einer der Brüder Jesu, Jakobus, der Leiter der ersten christlichen Gemeinde sein.

Es ist eine Momentaufnahme, die wir mit unserem Predigtabschnitt vor uns haben. Was aber an ihm bleibend wichtig ist, das ist seine positive Aussage:

Und Jesus sah die Menschen an, die dort um ihn saßen und sagte: Das sind meine Mutter und meine Geschwister! Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.

Ich höre einen freundlichen Ton in diesen Worten. Ich sehe ein zugewandtes Gesicht und eine einladende Geste vor mir – so, wie sie Ernst Barlach in seiner Skulptur "Lehrender Christus" gestaltet hat. Vorn auf dem Liedblatt ist sie abgebildet. Die Hände liegen offen auf den Knien, bereit, jemanden bei der Hand zu nehmen, der oder die diese Geste der Zuwendung braucht. Bereit aber auch, etwas anzunehmen, das jemand ihm gibt. Und wenn ich diese Skulptur anschaue, dann stellt sich das Gefühl von Verbundenheit bei mir ein. Ein Kreis von Menschen, die einander etwas geben und voneinander etwas empfangen.

Verbindliche Gemeinschaft. Auf Augenhöhe miteinander. Familie eben. 


Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.

Über die Vaterrolle wird nichts gesagt. 

Muss nichts gesagt werden. 

Gott ist der Vater dieser Familie, dieser verbindenden Gemeinschaft. 

Gemeinde ist ein tragendes soziales Netz. 

Das ist mir eine der wichtigsten Beschreibungen für Kirche, für Gemeinde.

Gemeinde ist ein tragendes soziales Netz. 

Menschen geben einander Halt. 

Menschen, die an sich nichts miteinander zu tun hatten. 

Menschen, die dennoch einander brauchen. 

Menschen, die durch Christus miteinander verbunden werden. 


Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.

Das klingt zunächst nach einer anspruchsvollen Ethik – den Willen Gottes tun.

Das erste, was mir dazu einfällt, ist: Eine Gemeinschaft, in der Menschen sich angenommen fühlen.

Ohne Wertung. Ohne Urteil.

Einfach angenommen.

Die junge Frau, die sich aus der Milieuverengung ihrer Herkunftsfamilie herausgelöst hat und ihren Traumberuf studiert.

Die junge Frau, die sich in ihrer militanten Impfverweigerung durch ihre Mutter so in Frage gestellt fühlt, dass sie den Kontakt abbricht. 

Beide brauchen Halt. Es wäre nicht gut, wenn die eine diesen Halt in der Studentengemeinde findet, die andere aber auf den Halt in der Gemeinschaft der Verschwörungstheoretiker angewiesen bliebe.

Wie wichtig ist dieses: "Ohne Wertung, ohne Urteil, einfach angenommen."

Das zweite, was mir dazu einfällt, ist: Eine Gemeinschaft, in der Menschen sich angenommen fühlen. 

Der junge Mann, der sich aus der christlich-konservativen Werteorientierung herauslösen muss, um zu seiner Homosexualität stehen zu können.

Der junge Mann, der in der Kameradschaft rechtsradikaler Jugendlicher die Anerkennung findet, nach der er sich gesehnt hat.

Beide brauchen Halt. Es wäre nicht gut, wenn beide ihn in der Gemeinde nicht finden, weil "schwul" genau negativ bewertet wird wie "rechts".  


Das dritte, was mir dazu einfällt, ist: Eine Gemeinschaft, in der Menschen sich angenommen fühlen. 

Der Vater, der sich für seinen schwulen Sohn schämt. Die Mutter, die ihre impfskeptische Tochter vermisst. Den Vater, der um seinen in's rechtsradikale Milieu abgleitenden Sohn Angst hat. Die Eltern, die sich durch das Studium ihrer Tochter in Frage gestellt fühlen. 

Sie alle brauchen Halt. Es wäre nicht gut, wenn sie ihn in der Gemeinde nicht mehr suchen. Zum Beispiel weil sie Kirche mit einer unbarmherzigen Ethik assoziieren, die sich im Alltag nicht durchhalten lässt. Ich meine, dass das einer der Gründe ist, warum unsere Gemeinden derzeit so klein sind.

Menschen haben die Ethik der Kirchen als so weit von ihrer Lebenswirklichkeit empfunden, dass ihnen die Verkündigung unserer Kirchen eher ein schlechtes Gewissen gemacht hat als sie zu freiem und beherztem Handeln zu befähigen. Was sie doch eigentlich sollte. Deshalb ist das so wichtig, dass Menschen sich angenommen fühlen. Ohne Wertung. Ohne Urteil.  

Ich wünsche uns, dass wir als Gemeinde genau das ausstrahlen: Du bist hier angekommen. Weil Gott Dich angenommen hat. 

Und noch eines ganz zum Schluss: Manchmal gibt es das, dass Familien wieder zusammenfinden. Dass mit der Zeit die Verletzungen heilen, die Menschen einander zugefügt hatten. Ein paar Mal habe ich das miterleben können. Und das Gemeinsame dieser Versöhnungsgeschichten war, dass da Menschen in einer Gemeinschaft Halt gefunden hatten, in denen Vergebung und Annahme zu spüren gewesen sind – welch ein Erfahrungsfeld! Wo in unserer Gesellschaft könnten Menschen das sonst lernen?!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft,

der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß

und stärke unsre Liebe. 

Amen.

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