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Haus der Barmherzigkeit

Predigt zu Johannes 5, 1-13 vom 19. Sonntag nach Trinitatis in St. Jakob zu Köthen

eine staubige Matte im Sand vor einer Mauer.

Da, das knistern des Lautsprechers. Alle setzten sich gerade auf. Auch der schläfrige Mann der mir gegenüber sitzt und von dem ich bis eben noch dachte, dass er tief und fest schlummert. Er öffnet ein Auge und spitzt die Ohren. 

Und als dann ein anderer Name aufgerufen wird, da sacken wieder alle in sich zusammen. Weiter warten. So ist das in den Wartezimmern des Lebens. Bei Ärzten, im Jobcenter, auf der Zulassungsstelle, auf Krankenhausfluren, in Pflegeheimen und auch in den Wohnzimmern der Einsamkeit. Wo der alte Mensch vielleicht auf die Türklingel oder einen Anruf wartet, der vielleicht nie kommt. Es gibt viele solcher Orte auch hier in unserem Land. Orte, die wir Bethesda nennen können. Auch wenn die Bedeutung „Haus der Barmherzigkeit“ nur selten zutrifft. Und doch haben sie oft eins gemeinsam. Da ist dieser eine Mensch, der dort wartet mit diesem einen Satz, der wehtut und doch wahr ist:

Ich habe keinen Menschen.

 So steht es auch in unserem Predigttext, der vom Warten erzählt –
vom Warten auf Heilung, auf Berührung, auf ein neues Leben.

 

Lesung Joh 5, 1-13

 

Es war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Es war aber Sabbat an diesem Tag. Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.

 

Da liegt er also, dieser Mann. Achtunddreißig Jahre.
Also fast ein ganzes Leben lang.
Er wartet auf Bewegung, auf das Wasser, auf den Engel, auf jemanden, der ihm hilft.
Und als Jesus ihn fragt: „Willst du gesund werden?“ – da antwortet er nicht mit einem klaren Ja.
Sondern er sagt nur: „Ich habe keinen Menschen.“

Ein Satz, so schlicht und doch voller Schmerz.
„Ich habe keinen Menschen“ – das heißt: Niemand sieht mich.
Niemand ruft meinen Namen, wenn es darauf ankommt.
Niemand steht auf, um mir beizustehen.

Und ich höre diesen Satz auch heute, wenn ich hinhöre.
Vielleicht nicht mit denselben Worten, aber im Ton ist er derselbe.
Wenn eine Frau im Pflegeheim sagt: „Es kommt ja kaum noch jemand vorbei.“
Wenn ein Jugendlicher schreibt: „Ich hab’s versucht, aber keiner merkt, wie’s mir geht.“
Wenn ein Mensch nach einem Krankenhausaufenthalt nach Hause kommt und niemand da ist, der ihm die Einkaufstasche trägt.
„Ich habe keinen Menschen“ das klingt heute leise, aber es hallt laut nach.

Es ist die Stimme der Verlassenheit.
Sie klingt in Krankenhäusern und Altenheimen, in übervollen Büros und in stillen Wohnungen.
Manchmal auch mitten in der Firma, wo Menschen aneinander vorbeilaufen, jeder beschäftigt, keiner wirklich da.

Und das Erschreckende: Dieser Satz steht mitten in einem Ort, der Bethesda heißt – Haus der Barmherzigkeit.
Ausgerechnet da, wo Heilung und Hilfe zu Hause sein sollten, ist einer ganz allein.
Wie bitter, wenn Orte, die für Hoffnung stehen, zu Orten des Wartens werden.
Wenn aus einem „Haus der Barmherzigkeit“ ein Ort wird, an dem niemand mehr Zeit hat.

 

Und an der Stelle kommt Jesus ins Spiel.

Er hört diesen Satz.
Er geht nicht vorbei.
Und das ist vielleicht schon der Anfang der Heilung:
Dass einer da ist, der nicht weghört, sondern der stehen bleibt.

 

Jesus kommt zu diesem Mann. Aber nicht, weil der laut ruft oder sich bemerkbar macht.
Jesus kommt von sich aus.
Er sieht ihn liegen, so heißt es im Text.
Und er fragt ihn: „Willst du gesund werden?“

Das ist keine rhetorische Frage. 

Sie zielt mitten ins Herz.
Denn gesund werden, das bedeutet Veränderung.
Das heißt: raus aus dem, was man kennt, auch wenn es schwer ist.
Raus aus der Rolle des Wartenden, hinein in das Leben.
Und das kann Angst machen.

Jesus drängt den Mann nicht.
Er fragt ihn.
Und er wartet die Antwort ab, selbst wenn sie ausweicht.
Der Kranke sagt ja nicht: „Ja, ich will.“
Er sagt: „Ich habe niemanden.“
Und vielleicht ist das seine Art zu sagen: Ich will, aber ich kann nicht.
Ich habe es so oft versucht – und bin immer wieder liegen geblieben.

Und genau da beginnt das Wunder:
Jesus hört nicht auf die Entschuldigung, sondern auf die Sehnsucht, die dahinter steckt.
Er sieht nicht nur, was fehlt – er sieht, was möglich ist.
Wo alle nur das Unvermögen sehen, da sieht er die Hoffnung.

Und das ist der Blick Jesu:
Er sieht den Menschen – nicht die Akte, nicht die Diagnose, nicht das Etikett.
Er sieht die Würde, die unter dem Staub verborgen liegt.
Er sieht das Leben, das noch möglich ist.

So fängt Heilung an:
Nicht erst, wenn alles gut ist,
sondern da, wo einer endlich gesehen wird.
Wo jemand dich wahrnimmt; nicht als Fall, sondern als Mensch.
Und genau das tut Jesus:
Er sieht dich.

 

Dann sagt Jesus diesen einen Satz, der alles verändert:
„Steh auf, nimm deine Matte und geh.“
Kein Zauberspruch, kein großes Ritual nur ein Wort, aber ein schöpferisches.
Wie am Anfang, als Gott sprach: Es werde Licht.
So spricht Jesus: steh auf

Und der Mann steht auf.
Zum ersten Mal seit achtunddreißig Jahren trägt er, was ihn getragen bis dahin getragen hat.
Die Matte – Symbol seiner Krankheit, seiner Geschichte, seines Stillstands – sie wird nun zum Zeichen seiner Freiheit.
Er lässt sie nicht liegen an dem Ort wo er so lange lag.

Er trägt sie mit sich.
Weil zu seinem neuen Leben eben auch seine Geschichte gehört.

Ich finde das einen erstaunlich empathischen Gedanken:
Jesus sagt nicht: „Lass alles hinter dir.“
Sondern er sagt: „Nimm’s mit – aber geh!“
Vergangenheit wird nicht ausgelöscht, sondern verwandelt.
Erinnerung bleibt, aber sie fesselt nicht mehr.

Und ich glaube genau darin liegt die eigentliche Heilung:
Dass einer wieder gehen kann.
Nicht perfekt, nicht ohne Last, aber auf eigenen Füßen.
Dass einer sich erhebt und merkt: Ich bin nicht mehr nur das, was mich festhielt.
Und spürt: Ich kann wieder eine Richtung haben.

Und das, das gilt auch heute.
Immer dann wenn Menschen anfangen, aufzustehen nach einer Krankheit, nach einer Krise, nach einer Enttäuschung.
Wenn sie wieder Schritte wagen, obwohl das Leben Spuren hinterlassen hat.
Dann liegt dieses Wort von Jesus in der Luft:
„Steh auf, nimm deine Matte und geh.“
Es ist ein Ruf ins Leben; damals wie heute.

 

 

Und es könnte alles so schön sein, aber kaum ist der Mann auf den Beinen, beginnt der Streit.
Nicht etwa Freude über das Wunder, nicht Staunen über das neue Leben –
sondern der erhobene Zeigefinger: „Aber Leute, Heute ist doch Sabbat. Das darfst du nicht!“

Und das finde ich ziemlich bitter.
Da geschieht etwas Gutes, etwas, das einem Menschen seine Würde zurückgibt –
und sofort wird gefragt, ob das überhaupt erlaubt ist.
Als ginge es zuerst um Vorschriften und erst danach um Menschen.
Als müsste man das Leben in Formularfelder pressen.

Und solche Momente, die gibt es bis heute.
Wenn Hilfe verweigert wird, weil sie nicht „zuständig“ ist.
Wenn Menschen das Richtige tun und es trotzdem Ärger gibt,
weil es irgendwo gegen eine Regel verstößt.
Wenn das Herz schneller ist als das Formular.

Doch Jesus handelt anders.
Er heilt – auch wenn es Ärger gibt.
Er stellt das Leben über die Ordnung.
Nicht, weil ihm Regeln irgendwie egal wären,
sondern weil der eigentlich Sabbat genau dafür da ist:
dass Menschen aufatmen können.
Dass Leben geschützt und nicht eingeschränkt wird.

Und ich glaube, das ist die Herausforderung des Glaubens bis heute:
Manchmal ruft uns Christus dazu, Dinge zu tun,
die nicht in den Plan passen
aber eben der Wille Gottes sind.
Manchmal heißt Nachfolge dann,
die Matte zu tragen, auch wenn andere den Kopf schütteln.

 

Bethesda – das „Haus der Barmherzigkeit“.
So hieß dieser Ort damals.
Und vielleicht ist das am Ende die eigentliche Frage dieses Evangeliums:
Wo ist heute so ein Haus?
Wo finden Menschen, die sagen müssen „Ich habe keinen Menschen“, jemanden, der bleibt, der zuhört, der sieht?

Ich glaube: Genau da ist unser Auftrag als Gemeinde.
Dass wir einander zu solchen Menschen werden.
Dass wir nicht nur Programme machen, sondern Beziehungen leben.
Dass unsere Kirche, unsere Gemeindehäuser und unsere Herzen Orte sind, an denen niemand übersehen wird.

Manchmal beginnt Barmherzigkeit dann auch ganz unspektakulär.
Mit einem Anruf, einem Besuch oder einem Satz wie: „Ich hab dich gesehen.“
wo andere weitergehen. So fängt Heilung an.

Und bestimmt sind wir alle mal wie der Mann am Teich
liegend, wartend, erschöpft.
Und ein anderes Mal dürfen wir dafür wie Jesus sein:
Den Menschen sehen und ihm ein Wort sagen, das trägt.

Das ist das Wunder, das bleibt:
Wo Menschen sich einander zuwenden,
wo einer für den anderen da ist,
da wird das Leben leicht.
Dann wird aus jedem Warten ein neuer Anfang.
Und jedes „Ich habe keinen Menschen“
wird ein leises und dankbares:
„Doch – ich habe einen.“

Amen.

Gehalten am 26.10.2025 von Martin Olejnicki in St. Jakob Köthen

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