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Navid Kermani: Das Alphabeth bis S

Navid Kermani: „Das Alphabet bis S“

An einem Neujahrstag beginnt der neue Roman von Navid Kermani: 

„Das Neue Jahr erwarteten wir zu viert: mein Vater, der nicht allein gelassen werden konnte, mein Sohn und meine beste Freundin, die wiederum mich nicht allein lassen wollte und Schnitzel zubereitete, dazu Kartoffelsalat, als Nachspeise Eis, um es einfach zu halten, ein echtes deutsches Essen, wie der Vater anerkennend rief. Die Stühle meiner Mutter und meines Mannes blieben leer.“ (Leseprobe)

Der Vater, der sich da über ein echt deutsches Essen freut, stammt aus dem Iran. Die Mutter der fiktiven Tagebuchschreiberin ist vor kurzem gestorben. Mit ihrem Mann lebt sie in Scheidung. Eine schwere Erkrankung ihres Sohnes wird viele Tagebucheinträge in diesem Jahr füllen. Es ist zunächst das Tagebuch einer persönlichen Lebenskrise, das Navid Kermani in 365 Einträgen schreibt. Weniger als Plot, sondern eher um eine außerordentlich dünnhäutige und darum sensible Erzählstimme zu motivieren:

„Aus dem Augenwinkel verfolge ich das Beziehungsdrama am Nebentisch, das alle Regieanweisungen bis hin zu Tränen, mühsam unterdrückten Schreien und Prosecco zur Versöhnung befolgt, mit zwei Frauen allerdings, aber der Wortlaut, die Gesten und selbst die Rollenverteilung könnten von jedem anderen Paar unseres Alters und sozialen Stands sein. Schauderhaft, die eigenen Grimassen zu erblicken, und der Spiegel ist nicht einmal verzerrt.“ (Leseprobe)

Diese Erzählstimme hat vordergründig viel mit Navid Kermani gemein: Aufgewachsen als Sohn iranischer Eltern in Deutschland, Schriftsteller, Essayist und gefragter Redner, praktizierender Moslem mit einem wachen Blick für die praktizierenden Katholiken seiner Heimatstadt Köln. All diese Züge leiht er der Erzählstimme seines Romans, schafft aber auch Distanz, indem er die Stimme einer Frau erzählen lässt. Zum Beispiel von der Totenwaschung der verstorbenen Mutter. Oder von der Einladung der Verteidigungsministerin, eine Rede bei einer Rekrutenvereidigung zu halten:

„Auf YouTube staune ich über eine pseudoreligiöse Parallelwelt und dass ich in fünfzig deutschen Jahren kaum je mit ihr in Berührung gekommen bin: Stechschritt, Fahnen, Marschmusik, Standarten, Luftwaffe Marine Heer, Gewehr über, Gewehr in Paradehaltung, Gewehr absetzen, und beim gleichzeitigen Aufprall von mehreren Tausend Sturmgewehren macht es wie von einer Kanone Peng. Blick rechts, Blick gerade, Pause, aus, Stillgestanden, was die Soldaten ohnehin tun, und am kuriosesten: Rührt euch, weil das Rühren genauso uniform ist. Offenbar soll es ein Fortschritt sein, wenn jetzt auch Soldatinnen das Gelöbnis in abgehackten Satzteilen aus voller Kehlre schreien. So wenig zu beanstanden die Worte selbst sind, macht die Lautstärke dennoch Angst. Aber gut, ein Militär, das friedlich tut, wäre ein Widerspruch in sich. Nur sind wir das nicht mehr gewohnt, sehen von der Bundeswehr nur gelegentlich die jungen Leute, die fürs Wochenende nach Hause fahren, ihre Tarnfarben in den Städten heutzutage auffälliger als die Neonfarben der Sportler. {…} Sosehr sie sich beim Rühren anstrengen – im Ernstfall würde ich von ihnen eher nicht verteidigt werden wollen gegen eine Schar todesmutiger Taliban in Adiletten.“ (Leseprobe)

Aus solchen Szenen setzt das Tagebuch ein Mosaik zusammen, das am Ende einen großen Gesellschaftsroman ergibt. Der wird facettenreich nicht nur durch die Erlebnisse und Erfahrungen seiner fiktiven Schreiberin, sondern auch durch ihre Lektüre: Fast manisch liest sie all die ungelesen im Regal abgestellten Autoren (Autorinnen bleiben dabei die Ausnahmen), die sich als Geschenke oder Ge- und Verlegenheitskäufe bei ihr angesammelt haben. In Alphabetischer Reihenfolge! Also relativ wahllos. Bis zum Buchstaben S wird sie immerhin kommen in diesem einen Jahr. Und dieses Nachdenken über Literatur zieht eine zweite Ebene ein in Kermanis Gesellschaftsroman, öffnet Reflexionsmöglichkeiten, die sich allein aus dem Alltagserleben der Erzählstimme nicht ergeben würden. Zum Beispiel die Frage nach Gott: Sensibilisiert durch die Trauer um ihre Mutter reagiert die Tagebuchschreiberin auf Lese-Eindrücke bei Autoren unterschiedlicher religiöser Prägungen. Ein intensives Gespräch entsteht, in das die Leserinnen und Leser mit hineingezogen werden – ein intensives Gespräch um Fragen wie: „Ist der Glaube das Gegenteil oder die Folge von Wissen?“ 

Wir werden in der Reihe „Leselampe“ über dieses Buch und seine klugen Fragen sprechen: 

am Freitag, dem 12. Januar 2024

19:00 Uhr im Gemeindehaus St.-Agnus, Stiftstraße 11

Navid Kermani, Das Alphabet bis S,

München 2023

ISBN: 978-3-446-27745-8

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